Einblick Dezember 2022 | „Homöopathie für geflüchtete Menschen in Deutschland“ mit HiA
Es gibt uns schon seit 7 Jahren! Im Dezember 2015 haben wir mit der Initiatorin Dr. Maria Möller unsere homöopathische Praxis für Geflüchtete ins Leben gerufen. Traumtherapeutische und interkulturelle Fortbildungen waren eine große Hilfe für den Einstieg in die praktische Tätigkeit. Nicht zu unterschätzen waren und sind die wertvollen Hinweise unserer ÜbersetzerInnen zum jeweiligen landesspezifischen und kulturellen Hintergrund unserer PatientInnen. Diese stammen überwiegend aus Afghanistan, Syrien, afrikanischen Ländern und der Ukraine.
Einmal in der Woche öffnen wir unsere Praxis in einem uns kostenlos zur Verfügung gestellten Raum. Die Termine werden unter Voranmeldung vergeben. Von Beginn an arbeiten wir in Zweierteams, diese Vorgehensweise erweitert unseren Fokus und ist hilfreich beim Begleiten der schicksalsbehafteten PatientInnen. Aufmerksamkeit, Zeit und Raum, die wir den PatientInnen geben, dieses Angenommen werden wird als sehr wohltuend empfunden. Selbstverständlich steht die homöopathische Mittelfindung im Vordergrund. Für die Anamnese nehmen wir uns eine Stunde Zeit, im Bedarfsfall mehr. Unser Augenmerk liegt auf den erkennbaren Symptomen der PatientInnen. Was sehen wir, was hören
wir, was zeigen uns die PatientInnen in dem Moment? Nach diesen Kriterien und einer ausführlichen Repertorisation entscheiden wir uns für das homöopathische Mittel. Je nach Schweregrad der Beschwerden bestellen wir die PatientInnen in 4 bis 8 Wochen wieder ein.
Beispielhaft zwei Fälle aus der Praxis:
Fall 1
- 57jährige Patientin aus dem Süden der besetzten Ukraine, die vor 9 Monaten zu ihrer Tochter flüchtete und ihren Mann zurücklassen musste
- Sie ist Lehrerin, hatte große Freude an der Natur und liebte Gartenarbeit
- Sie berichtet über eine übermäßige Geräuschempfindlichkeit, die in der Ukraine begann, als ihr Dorf von russischen Soldaten besetzt wurde. Schießereien und tief fliegende Flugzeigen haben sie schockiert. Sorgen um die Zukunft und eine damit einhergehende Schlaflosigkeit belasten sie sehr. Zudem berichtet sie über Blutdruckspitzen von 180/100, einem Gerstenkorn am Unterlid li., einer Durstigkeit vor allem am Morgen mit trockenen Lippen.
Verordnung: Aconit. M (einmalige Gabe)
- Follow up nach 6 Wochen: Nach der Einnahme hatte sie das Gefühl „als ob sich ein Sturm legt“. Sie hatte mehr Energie, bessere Laune und hat nicht mehr so viel gegrübelt. Der Schlaf hat sich auch gebessert, nach 14 Tagen ließ die Wirkung langsam nach. Es tauchten bekannte Kopfschmerzen auf, die sich durch festen Druck, z.B. durch ein Kopftuch und Bewegung an frischer Luft bessern.
Verordnung: Aconit. Q6 täglich
- Follow up nach weiteren 6 Wochen:
Allgemeinbefinden besser, das Gerstenkorn am linken Unterlid ist wieder aufgetaucht. Sie besucht einen Sprachkurs, der ihr Freude bereitet. Bei schönem Wetter geht es ihr gut. Wetterwechsel verschlimmert. Sie genießt die Natur mit den schönen Herbstfarben. Zitat: „Verstehe das Leben besser, bin aufgewacht“
Verordnung: Aconit. Q9 täglich
Repertorisation zu Aconit:
Gemüt empfindlich, überempfindlich Geräusch
Gemüt auffahren Geräusch
Gemüt Beschwerden Schock
Augen Gerstenkörner Unterlid li.
Gesicht Trockenheit Lippen
Kopfschmerzen allgemein Druck amel.
Kopfschmerzen allgemein Luft, frisch amel.
Allgemein Wetter Wetterwechsel agg.
Fall 2
- Herr F. aus Afghanistan mit PTBS (Konzentrationsstörung, Schlafstörung, hoher Stresslevel)
- Wenn er in Stress gerät, dann kommt die gesamte Vergangenheit mit Flucht. Dann kann er nichts mehr hören, kann nicht mehr sprechen, vergisst sogar seine Muttersprache, verläuft sich, bekommt Rachegefühle (extreme Anspannung, Gedanken zu töten)
- Zitat: „Arbeit seit einigen Monaten, erlebe dort auch viel Stress mit Kollegen“
- Beschäftigung und körperliche Aktivität bessern seinen Zustand etwas, Schlaf ist sehr schlecht, kann nur 3 bis 4 Stunden schlafen, Kopfschmerzen; führt Selbstgespräche, in Anspannung zerreißt er Kleidung
Erstanamnese Juli 2021
Verordnung: Aconit. Q9 täglich
Stram. C200 brachte bisher noch keine Linderung
- Follow up im August 2021:
Patient wirkt extrem angespannt, Blickkontakt ist nicht bis nur ganz kurz möglich; Zitat: „Alles ist so schwierig, der Stress ist so enorm, dass ich nicht mehr denken kann“
- Er erzählt von Schwierigkeiten, die er mit Kollegen bei der Arbeit hat, von Schwierigkeiten mit seinen Landsleuten, weil sie Alkohol trinken und rauchen. Er redet schnell und zum Teil unverständlich, Nachfragen ist nur ganz vorsichtig möglich. Beobachtung: Pat. wirkt zunehmend angespannt, die Atmung wird zunehmend schwerer, er stöhnt immer wieder und wird auch unruhig, ballt Fäuste und knackt mit den Fingergelenken, Gesicht erhitzt, beginnt Taschentuch in kleine Fetzen zu zerreißen, er will weg, kann nicht mehr im Raum bleiben, steht auf und will sofort raus
Verordnung: Bell. C200
- Follow up Oktober 2022:
Zustand ist deutlich entspannter, er bekam bis jetzt 3x Bell. C200; mittlerweile hat er die Führerscheinprüfung bestanden, hat einen festen Arbeitsvertrag bekommen und wirkt glücklich darüber
- Er hält gut Blickkontakt, empfindet Stress als nicht mehr so überwältigend, er sagt, er trinke dann Wasser, atmet und geht raus; Kopfschmerzen Schläfen bds. immer wieder mal
Repertorisation zu Belladonna:
Gemüt – Beschwerden durch Erregung des Gemüts
Gemüt – Destruktivität, Zerstörungswut
Gemüt – versucht zu fliehen
Gemüt – Gedächtnis, Gedächtnisverlust
Gemüt – heftig, vehement
Gemüt – Verlangen zu töten
Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich in manchen Fällen eine deutliche Besserung auf allen Ebenen einstellt. In anderen Fällen lindern sich belastende Symptome wie Schlafstörungen, Schmerzen u.ä., diese Erleichterung setzt Ressourcen frei, die den PatientInnen z.B. eine Teilnahme am Gemeinschaftsleben oder an Sprachkursen ermöglichen und somit eine Verbesserung des Allgemeinbefindens fördern. Auf diese Weise werden wir weiter unsere PatientInnen begleiten und unterstützen.
Susanne Billmayer und Rosa Maria Achter (HfF-Projekt Augsburg)